23.11.2017

Weiteres Plädoyer der Nebenklage: Zum politischen Kontext des NSU

Rechtsanwalt Dr. Peer Stolle stellte sich mit seinem heutigen Plädoyer gegen die Tendenz im NSU-Verfahren, den NSU von den zeitgeschichtlichen Umständen, in denen er sich entwickelte, und von der Thüringer und bundesdeutschen Neonazi-Szene abzukoppeln und zu entkontextualisieren.

Er kündigte an: „Ich werde zunächst die gesellschaftliche Situation Anfang der 1990er Jahre in Erinnerung rufen, kurz auf einzelne biografische Eckpunkte der Verstorbenen Mundlos und Böhnhardt sowie der Angeklagten eingehen, die Entwicklung der extrem rechten Szene in Thüringen nachzeichnen, deren Ideologie und Handlungskonzepte darstellen und daran aufzeigen, dass der NSU nicht als mörderisches Projekt einiger Weniger, die abgeschottet von der Szene agierten, sondern als logisches Produkt der in der Szene diskutierten Konzepte zu verstehen ist.“ Diese Ankündigung setzte er dann um in einer beeindruckenden zeitgeschichtlichen, dabei immer an die Ergebnisse der Beweisaufnahme angebundenen tour de force zu den historischen Entwicklungen nach 1990, dem Rechtsruck der Gesamtgesellschaft, der Welle rassistischer und nazistischer Gewalt, der Entstehung und Entwicklung des „Thüringer Heimatschutzes“ und schließlich der Diskussionen im THS um „führerlosen Widerstand“, die in der Entstehung des NSU mündeten.

Dieser Blick auf die 1990er-Jahre mit der Welle der rassistischen Anschläge erfolgte im Übrigen auf den Tag genau 25 Jahre nach dem Mordanschlag in Mölln.

Peer Stolle stellte auch anhand zahlreicher Straftaten mit Bomben(-attrappen) der „Sektion Jena“ des THS aus den Jahren 1995 bis 1998 dar, dass die Entwicklung zum NSU nicht erst nach dem Untertauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe begann, sondern bereits in diesen Jahren, und dass daher zum NSU eben nicht nur diese drei, sondern auch weitere Personen, auch aus Thüringen, gezählt werden müssen.

Zu Details verweisen wir sehr gerne auf die Zusammenfassung seines Plädoyers.

Die Zschäpe-Verteidiger Heer und Stahl unterbrachen heute zunächst nicht – zu eindeutig hatte ihnen das Gericht zweimal deutlich gemacht, dass solche Ausführungen zum Kontext der angeklagten Taten natürlich zulässig sind. Sie betrieben heute stattdessen (einmal wieder) ausführliches Kaspertheater mit Grimassen und Gesten, von denen sich der Plädierende allerdings nicht beeindrucken ließ. Auch dem Gericht blieb dieses peinliche Verhalten der Verteidiger nicht verborgen, wie es mit Blicken zu erkennen gab.

So griff Stahl schließlich zu einem durchsichtigen Trick: weil Peer Stolle sich in seinem Plädoyer auch auf die Bombenfunde in der 1998 durchsuchten Garage bezogen hatte, hinsichtlich derer die Verteidigung ein Verwertungsverbot behauptet hat, dürfe zu diesen Funden im Plädoyer nicht ausgeführt werden. Sonst müsse das Gericht über den Verwertungswiderspruch halt jetzt entscheiden. OStA Weingarten von der Bundesanwaltschaft zeigte sich erstaunt, hatte doch seine Behörde sich im Plädoyer auch ausführlich auf diese Funde bezogen. Außerdem stellte er klar, dass natürlich die reine Behauptung eines Verwertungsverbotes nicht ausreicht, um Ausführungen zu den Beweisen im Plädoyer zu verwehren. Auch ein Anspruch auf vorherige Entscheidung zu einem behaupteten Verwertungsverbot besteht nicht. Genauso sah das auch der Senat in seinem Beschluss.

Versteinerte Gesichter sah man bei Wohlleben und seiner Verteidiung, die wussten, dass Stolles Plädoyer Wohllebens Selbstdarstellung als pazifistischer „Ethnopluralist“ scharf in Frage stellte.

Nach dem Ende von Peer stolles Plädoyer mussten die Plädoyers der Nebenklage zunächst unterbrochen werden, weil der Angeklagte Eminger über eine Migräne klagte. Weiter geht es am nächsten Dienstag, 28. November.