Das schriftliche Urteil des OLG München ist 21. April, einen Tag vor Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist, zur Geschäftsstelle gelangt. Der Senat hat also die ihm zur Verfügung stehende Zeit zur Fertigstellung des Urteils praktisch vollständig ausgeschöpft. Das ist natürlich rechtlich zulässig, hat aber durchaus problematische Folgen angesichts der beinahe zwei Jahre, die seit der mündlichen Urteilsverkündung vergangen sind, und vor allem vor dem Hintergrund der großen Bedeutung, die dem endgültigen Abschluss des NSU-Strafverfahrens beigemessen werden muss. Es entsteht der Eindruck, das Gericht wolle auf diese Weise nochmal betonen, dass es sich bei dem Urteil gegen Zschäpe, Wohlleben, Schultze, Gerlach und Eminger um etwas völlig Alltägliches handelt und der NSU-Komplex eh abgeschlossen ist.
Diese Ignoranz setzt sich, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, nunmehr fort, denn das Urteil scheint bereits kurz nach Eingang bei der Geschäftsstelle verschiedenen Journalist_innen vorzuliegen, nicht aber den Nebenkläger_innen.
Wir wollen uns hier nicht mit dem Urteil insgesamt auseinandersetzen. Erstens liegt es uns noch nicht vor, zweitens haben wir zu den wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Fragen bereits Stellung genommen.
Ganz aktuell dürfte die wichtigste Frage sein, wie der Generalbundesanwalt mit seiner Revision gegen den Teilfreispruch des Angeklagten André Eminger weiter vorgeht. Das Gericht kaufte Eminger, dem überzeugten, gewaltbefürwortenden Neonazi, dem engsten Vertrauten des NSU-Kerntrios, ab, dass er lange Jahre bis 2008 keine Ahnung gehabt habe, was die mit den von ihm besorgten Fahrzeugen usw. vorhatten.
Dass das inhaltlich völlig unsinnig ist, ergibt sich schon aus dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft, deren Vertreter Weingarten nach ausführlicher Darstellung richtig gefragt hatte, „ob vielleicht die vierte Paulchen Panther Figur im Video für Sie, Herr Eminger, steht.“ Zum Nachlesen empfehlen wir auch den Beitrag von Friedrich Burschel und zum Nachhören den von Alexander Hoffmann. Zur dünnen Begründung im schriftlichen Urteil äußert sich Annette Ramelsberger in der Süddeutschen.
Indes hatte die Bundesanwaltschaft – entgegen dieser späten Aussage ihres Vertreters – Eminger eben nicht als Mitglied des NSU angeklagt. Das hätte ja auch der These vom abgeschotteten Trio und damit letztlich der Behauptung, dass das Thema NSU erledigt sei, nach der Devise „es gibt keinen Naziterror in Deutschland“, entgegengestanden. Und auch das Gericht, das Eminger noch während der Verhandlung für dringend verdächtig gehalten und in Untersuchungshaft genommen hatte, dann aber zum Urteil seine Meinung änderte, scheint gesehen zu haben, dass durch die Feststellung, wie nahe Eminger am Kerntrio dran war, im Ergebnis sein Schlussstrich-Urteil insgesamt in Frage gestellt werden würde.
Nun hat gegen den Teilfreispruch (nur) die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt. Sie befindet sich also nun in der rechtlich schwierigen Situation, innerhalb eines Monats darzulegen, dass das Urteil rechtsfehlerhaft ist, ohne gleichzeitig einzuräumen, dass Eminger eigentlich Mitglied und damit die Anklage falsch war.
An diesem Punkt ist zu befürchten, dass die Bundesanwaltschaft ihre Revision nicht mit Nachdruck verfolgen, sondern evtl. sogar ganz zurücknehmen wird, auch um endlich den von ihr gewollten Schlussstrich unter die Causa NSU zu ziehen. Neben der allein rechtlichen Frage, ob Zschäpe zurecht als Mittäterin verurteilt wurde – aus unserer Sicht: klar ja –, ist die Frage, wie es mit der Revision der Bundesanwaltschaft weitergeht, die spannendste und wichtigste.
Aus Sicht derjenigen, die an einer tatsächlichen Aufarbeitung des NSU-Komplexes geht, ist spätestens seit dem 11. Juli 2018 klar, dass von dem Urteil des OLG wenig zu erwarten ist. Trotzdem bleibt die Forderung „kein Schlussstrich“, und der wesentliche Ausdruck dieser Forderung zum jetzigen Zeitpunkt lautet: Die Bundesanwaltschaft muss sich an den den richtigen Ausführungen Weingarten im Plädoyer festhalten lassen und muss die Revision gegen den Teilfreispruch Emingers „durchziehen“!