„Die Solidarität hat gefehlt“:
Weitere Verletzte des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße
Heute sagten eine Reihe weiterer Verletzter des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße aus.
Merklich war vor allem, dass alle Verletzten noch stark mit den psychischen Folgen des Anschlags zu kämpfen haben. So sagte etwa der Besitzer des Ladens auf der anderen Straßenseite, der glücklicherweise durch ein geparktes Auto geschützt war und daher von „nur“ drei Nägeln getroffen und nicht schwer verletzt wurde: „Wenn ich heute auf der Keupstraße sitze und ein Fahrrad vorbeifahren sehe, dann denke ich, es könnte wieder passieren.“
Am Schicksal einer Frau, die sich im Laden neben dem Frisörgeschäft befunden hatte, zeigt sich ein weiteres Mal, dass die Behörden die BewohnerInnen der Keupstraße nicht wie „normale“ Geschädigte behandelt haben: Die Zeugin hatte unmittelbar nach der Explosion einen der schwerverletzten jungen Männer gesehen, hatte die noch lodernden Flammen an dessen Bein gelöscht, wenig später das Bewusstsein verloren – sie war also augenscheinlich schwer traumatisiert. Bei jedem größeren Unglücksfall, erst recht bei einem Verbrechen, wäre die übliche Reaktion, Betroffenen wie ihr eine sofortige und umfassende traumatheurapeutische Behandlung zukommen zu lassen. Nicht so im Fall der Zeugin: Sie hatte zwar nach dem Anschlag einige Sitzungen Psychotherapie, dann wurde ihr aber gesagt, ihr Anspruch auf Therapie sei erschöpft. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 wurde ihr geholfen, einen geeigneten Therapeuten zu finden – bei dem sie auch noch immer in Behandlung ist, weil ihre psychischen Beschwerden bis heute anhalten.
Ein weiterer Kunde des Frisörsalons, der zum Glück nur leicht an den Ohren verletzt wurde, formulierte seine Wahrnehmung heute so: „Nach 2011 hat sich die Meinung zu bestimmten Dingen geändert, von der Psyche her: die Solidarität hat gefehlt.“ Auch er wurde von der Polizei befragt, ob er etwas vom Rotlichtmilieu wisse, von der PKK, ob er Kontakt zu denen habe, es wurden Fingerabdrücke und eine DNA-Probe genommen. Diese Vernehmung war wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als die Fahndungsfotos von den eindeutig nicht-türkischen Verdächtigen bereits vorlagen.
Ähnlich erging es den drei Männern, die in der polizeilichen Ermittlungsakte immer wieder als die Kunden aus der „Türsteherszene“ auftauchen – damals drei junge Familienväter Anfang 30, die ihr Geld mit so „verdächtigen“ Berufen wie Elektriker oder Gabelstaplerfahrer verdienten. Auch sie wurden, nachdem ihre Verletzungen im Krankenhaus versorgt worden waren, von der Polizei stundenlang vernommen und ausgequetscht, ob sie etwas wüssten über Rotlichtmilieu, Drogen, PKK. Auch bei Ihnen wurden Fingerabdrücke und DNA-Proben genommen, sie wurden wie Tatverdächtige behandelt. Sehr berührend war auch, wie die drei Zeugen, allesamt körperlich starke junge Männer, sehr emotional und authentisch von bleibenden psychischen Problemen wie Schlafstörungen, Alpträumen, Angst vor Menschenmengen usw. berichteten.
Den Abschluss machte der beim Anschlag verletzte Frisör, der Bruder des Inhabers des betroffenen Friseurladens. Er hatte den Täter, der das Fahrrad abstellte, gesehen und der Polizei recht genau beschrieben. Die Polizei wusste also vom ersten Tag an, dass der Täter von Geschädigten als hellhäutig und blond beschrieben wurde – was sie nicht davon abhielt, den Zeugen und seine Familie sowie alle anderen Türkei-stämmigen Menschen aus der Keupstraße als Verdächtige zu behandeln und den Zeugen noch 2006 wochenlang zu beschatten. Der Zeuge berichtete auch von den schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen des Attentats für den Salon und die Gewerbetreibenden auf der Keupstraße allgemein: denn die vielen Verdächtigungen, die sich auch in den Medien fanden, führten natürlich dazu, dass viel weniger Menschen als zuvor die Keupstraße und die dortigen Geschäfte besuchten.
Zusammenfassend zeigte der Tag erneut, dass die NSU-Bombenleger zwar zum Glück ihr Ziel, möglichst viele Menschen zu töten, nicht erreichten – dass sie aber das Ziel, möglichst viel Leid über die Menschen in Keupstraße zu bringen, leider sehr wohl erreichten. Insofern war es erleichternd zu sehen, dass die BewohnerInnen und BesucherInnen der Keupstraße ihren Kampfeswillen nicht verloren haben. Das zeigte sich an der kraftvollen Kundgebung und Demonstration gestern, aber auch ganz sinnbildlich an der Antwort eines der Zeugen, der sich selbst als „Kölsch-türkischer deutscher Jung“ beschrieb, auf die Frage, ob er nach der Enthüllung des NSU drüber nachgedacht habe, Köln und Deutschland zu verlassen: „Nein, warum sollte ich das? Ich lebe in Köln, das ist meine Heimatstadt, Deutschland ist mein Heimatland. Wieso sollte ich hier weggehen?“