Nebenklagevertreter fordern konzentrierte und rückhaltlose Aufklärung
Der Bundestag hat einen zweiten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes eingesetzt. Dies begrüßen wir, die unterzeichnenden Nebenklagevertreter und -vertreterinnen im NSU-Verfahren in München, ausdrücklich.
Im Zentrum des Ausschusses sollte die Frage stehen, welche Rolle das V-Leute-Systemfür die Entstehung des NSU und dessen Unterstützungsstrukturen gespielt hat. Es ist zu klären, was insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz wusste und ob nachrichtendienstliche Erkenntnisse, die es ermöglicht hätten, die Morde zu verhindern, ignoriertworden sind. Im Strafprozess in München haben wir Anhaltspunkte dafür gefunden, die ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit seinem sehr viel weiter reichenden Instrumentarium zur Aufklärung dieser Fragen weiter verfolgen muss. Für uns istesvor dem Hintergrund derErfahrungen aus der Hauptverhandlung am OLGMünchen,vonV-Mann-Führern und neonazistischen V-Leuten gleichermaßen belogen worden zu sein, sehr klar: Die Frage nach dem Wissens-, Kenntnisstand und den daraus resultierenden Handlungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz, seiner V-Mann-Führer, seiner Leitungsebene und seiner V-Leute zu den Aktivitäten des mutmaßlichen NSU-Kerntrios und dessen Unterstützer_innen-Netzwerk muss im Zentrum des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag stehen.
Im Übrigen war die Einsetzung des 2. NSUUntersuchungsausschusses im Bundestagüberfällig. Der erste Untersuchungsausschuss aus der letzten Legislaturperiode hatteeine Vielzahl angeforderter Akten von den Behörden nicht erhalten und endete daher mit einem damals noch geringeren Erkenntnisstand.Unsere Aufklärungsbemühungen im Strafprozess vor dem OLG München, aber auch die des Bundestages mit seinen weiteren regulären parlamentarischen Instrumentarien, etwa denen des dortigen Innenausschusses,werden zudem bis heute dadurch behindert, dass systematisch Informationen zurück gehalten werden oder gar eine bewusste Desinformation erfolgt. Verantwortlich dafür sind zumindest in einem erheblichen Umfang auch Bundesbehörden, wie etwa das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst,der Bundesnachrichtendienst und nicht zuletzt auch die Generalbundesanwaltschaft sowie die für sie ermittelnden Behörden. Deshalb ist es wichtig, dass sich der neue Untersuchungsausschuss –ohne jede Schonung dieser Dienste und Behörden –um die rückhaltlose Aufklärung bemüht, die den Hinterbliebenen und Verletzten des NSU-Terrors versprochen wurde.
Die Zeit für den Untersuchungsausschuss ist knapp. Ein sinnvolles Ergebnis kann nur dann erreicht werden, wenn sich die Abgeordneten konsequent und kompromisslos gegen jede Hinhalte-und Verschleierungstaktik wehren und ihre parlamentarischen Kontrollrechte verteidigen und durchsetzen.
Neben der Frage nach der Rolle des Inlandsgeheimdienstes muss auch weiter geklärt werden, welchen Anteil institutioneller Rassismusan den Ermittlungsfehlern der Strafverfolgungsbehörden hatte.Die fehlende gemeinsame Benennung dieses Problems haben die Nebenklagevertreter und -vertreterinnen nach dem ersten Untersuchungsausschuss deutlich kritisiert.
Die damals geäußerte Sorge, dass das Mantra von „Pannen“ und „Betriebsblindheit“zu falschen Schlüssen führen würde, war leider berechtigt. So hat die große Koalition inzwischen unter anderem zwar eine Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz beschlossen: Statt aber dessen Befugnisse zumindest an den Stellen einzuschränken, an denen sie missbraucht wurden oder aber zumindest kontraproduktiv gewirkt haben, sind nunmehr die Machtund die praktischen sowie finanziellen Mittel des Bundesamtes massiv ausgebaut worden. Man hat aus den im vorangegangenen Untersuchungsausschuss festgestellten Fehlentwicklungen nicht gelernt –man hat sie vielmehr weitestgehend legalisiert.
Solche Konsequenzen darf einneuer Untersuchungsausschuss nicht haben. Im Gegenteil muss der Untersuchungsausschuss dazu führen, dass diewenigenbislang beschlossenen Reformen überdacht und ggf. an entscheidenden Stellen korrigiert werden. Dafür müssen aus unserer Sicht im Wesentlichen folgende Fragen aufgeklärt werden:
1. Was wusste das Bundesamt für Verfassungsschutz vor der Selbstenttarnung des NSU über die sog. Ceska-Mordserie?
Beim Hessischen Verfassungsschutz gab es bereits vor den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat 2006 ein Rundschreiben zur Mordserie und die Aufforderung,dazu Informationen von V-Leuten einzuholen. Weitere Behörden waren in den Vorgang eingebunden, sehr sicher auch das Bundesamt, weil es ein bundeslandübergreifender Vorgang war. Gab es Informationen dazu? Von wem? Wann? Welche? Warum hat das Bundesamt ggf. dem letzten Untersuchungsausschuss verschwiegen, dass es derartige Ermittlungen zur Mordserie vor 2006 angestrengt hat? Gibt es dazu Akten? Wurden sie ggf. vernichtet?
2. Was wusste das Bundesamt für Verfassungsschutz über den „NSU“ vor 2011?
Welche Informationen gab es wann von dem V-Mann Thomas Richter, alias „Corelli“? Warum wurden dem letzten Untersuchungsausschuss Informationen vorenthalten (bspw. die Übergabe einer CD mit der Bezeichnung „NSU / NSDAP“ im Jahr 2005 oder die Übergabe des Nazi-Fanzines „Weißer Wolf“ mit Grüßen vom „NSU“ im Jahr 2002 an das Bundesamt)?
Welche Informationen gab es wann von dem V-Mann Marcel Degner, alias „Hagel“, des Thüringer Verfassungsschutzes, die an das Bundesamt weitergegeben wurden (mindestens 70 sollen vorliegen)? Warum sind sie dem letzten Untersuchungsausschuss (und dem OLG München) vorenthalten worden?
Welche bislang unbekannten Treffberichte und weiteren Informationen mit Bezug zum NSU-Komplex von V-Mann „Piatto“,alias Carsten Szczepanski,liegen dem Bundesamt vor?
3. Was wussten Bundesbehörden über das Netzwerk des NSU und wie wurde dieses Wissen genutzt?
Was wusste das Bundesamt über die Unterstützung des Kerntrios durch das Neonazinetzwerk „Blood & Honour“? Hier waren etliche V-Leute –auch aus Chemnitz –tätig, deswegen ist es nahezu unvorstellbar, dass es keine Informationen gab. Was wusstendas Bundesamt für Verfassungsschutz und auch derBundesnachrichtendienst–soweit es um internationale Kontakte geht –darüber?
4. Gibt es neue Möglichkeiten, die „Operation Konfetti“ aufzuklären?
Die am 11. November 2011 im Bundesamt für Verfassungsschutz vernichteten sieben V-Leute-Akten, insbesondere die Akten des V-Mannes Michael See,alias„Tarif“, konntennach Abschluss des ersten Ausschusses teilweiserekonstruiert werden. Warum war die Rekonstruktion der vernichteten Akten erst nach Abschluss des Ausschusses möglich? Was konnte bislang woraus wieder rekonstruiert werden und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Welche neuen Erkenntnisse gibt es dazu, warum die Akten der mindestens sieben V-Leute aus dem Umfeld des NSU-Kerntrios rechtswidrig unmittelbarnach Selbststellung von Beate Zschäpe vernichtet wurden?
5. Warum versuchen Bundesbehörden seit dem 04.11.2011 immer wieder, die Aufklärung zu blockieren?
Kurz nach der Selbstenttarnung des NSUwurde der ehemalige V-Mann Sebastian Seemann vernommen. Er machteAngaben zur möglichen Herkunft mindestens einer weiteren Tatwaffe, die aber den Akten des Münchener Strafverfahrens zu Folge nie weiter verfolgt wurden. Diese Information wurde auch dem ersten Untersuchungsausschuss vorenthalten, warum? Was ist hierbei die Rolle der Generalbundesanwaltschaft?
Warum legt die Generalbundesanwaltschaft dem OLG München diverse Vernehmungen von Zeugen zur Sache nicht vor? Warum wirdder Nebenklage (und allen anderen Beteiligten)–trotz des Transparenz-und Aufklärungsversprechensder Bundesregierung –die Akteneinsichtin diese Ermittlungsergebnisseverwehrt? Was ist das Ergebnis dieser Ermittlungen?