26.10.2016

Zur wahrscheinlichen Ausspähung der Berliner Synagoge durch den NSU, Neues zum Angriff an der Endhaltestelle, und zum Fall Peggy K.

Einziger Zeuge heute war ein ehemaliger Polizeiangestellter aus Berlin, der 2000 Wachdienst vor der Synagoge in der Berliner Rykestraße geleistet hatte. Er hatte bereits 2000 angegeben, er habe Beate Zschäpe mit 2 Männern und einer weiteren Frau mit 2 kleinen Kindern vor einer Gaststätte direkt neben dem Eingang zur Synagoge beobachtet, wo sie sich mit einem Stadtplan beschäftigt und Notizen gemacht hätten. Als er am Tag danach die Kripo Live-Sendung mit dem Fahndungsaufruf zu Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gesehen habe, habe er sie gleich erkannt und sich beim LKA gemeldet.

Als klar war, dass der Zeuge geladen werden würde, hatte der Vorsitzende Beate Zschäpe gefragt, ob sie im Mai 2000 in Berlin gewesen sei. Das bestätigte sie heute in einer Erklärung, die ihr Verteidiger Grasel verlas. Sie behauptete aber, die Synagoge in der Rykestraße kenne sie gar nicht, man habe auch nichts ausgespäht.

Der Zeuge bestätigte seine damaligen Angaben heute, wies aber angesichts der langen Zeitspanne erklärliche Erinnerungslücken zu den Details auf. Vermutlich werden hier noch ergänzend die Polizisten vernommen werden müssen, die ihn damals befragt haben. Einen weiteren Ansatz zur Aufklärung dieses Aspekts lieferte wiederum die Nebenklage – Rechtsanwältin von der Behrens und Rechtsanwalt Narin wiesen darauf hin, dass am gleichen Tag der im NSU-Komplex wohlbekannte „Blood and Honour“-Aktivist Jan Werner vom sächsischen Verfassungsschutz in einer Telefonüberwachung im Bereich der Synagoge festgestellt wurde und dass Werner einige Wochen später bei einer Observation in Berlin in Begleitung einer Frau gesehen wurde, die zwei kleine Kinder hatte und deren Aussehen der Beschreibung der zweiten an der Synagoge gesehenen Frau entspricht.. Diese Frau kann über den Verfassungsschutz namhaft gemacht werden und wird wahrscheinlich mehr zu den Plänen von Zschäpe und ihren Begleitern aussagen können.

Neuigkeiten gab es auch zu dem vielfach thematisierten Angriff mehrerer Neonazis auf zwei Männer an der Endhaltestelle in Jena-Winzerla, von dem Carsten Schultze berichtet hatte (vgl. etwa den Beitrag vom 21.07.2016). Die Verteidigung Wohlleben hatte hierzu eine Vielzahl von Zeugen aufgeboten, um Schultze als unglaubwürdig darzustellen. Dabei hatten sie sich auf Details kapriziert wie das, dass Schultze von einem Holzhäuschen berichtet hatte, in das ein Opfer hineingesteckt worden sei, ein solches Häuschen aber dort nicht gestanden habe. Nun hat die Polizei – wiederum nach gehöriger Nachhilfe durch einen Nebenklagevertreter (vgl. den Bericht vom 12.10.2016) – das damalige Opfer ausfindig gemacht. Und dessen Vernehmung durch das BKA bestätigt Schultzes Angaben bis ins Detail. Insbesondere berichtete er auch von der Holzhütte – die stand nur nicht an der Endhaltestelle, sondern in einer nahegelegenen Kleingartenanlage, in deren Richtung er geflohen war. Auch Schultzes sonstige Angaben werden durch diesen Zeugen bestätigt.

Es ist davon auszugehen, dass der Zeuge in den nächsten Wochen geladen werden wird. Damit hat sich auch dieser Vorstoß der Verteidigung Wohlleben in einen Bumerang verwandelt, die Verteidigung hat daran mitgewirkt, die Glaubhaftigkeit der Angaben Schultzes, der ja Wohlleben massiv belastet, zu belegen.

Wie zu erwarten war, kam auch der Fall der ermordeten Peggy K. zu Sprache, nachdem vorletzte Woche bekannt geworden war, dass an einem Stoffstück in der Nähe des Fundorts ihrer Leiche eine DNA-Spur von Uwe Böhnhardt gefunden worden war. Zunächst fragte der Vorsitzende die Angeklagte Zschäpe, ob sie Informationen zu diesem Mordfall habe. Dieselbe Frage war bereits durch die Nebenklage gestellt worden, aber damals wie alle Fragen der Nebenklage nicht beantwortet worden. Außerdem stellte er ihr einige Fragen zu einem Rechner aus der NSU-Wohnung in der Frühlingsstraße, auf dem mehrere kinderpornographische Daten gefunden worden waren. Verteidiger Borchert kündigte an, die Fragen würden wie üblich schriftlich beantwortet.

Am Ende des Verhandlungstages stellten NebenklägervertreterInnen den Antrag, die Akte des Mordfalls Peggy K. beizuziehen. Der Antrag gipfelte in der Annahme, der NSU habe seine Taten auch durch das Erstellen von Kinderpornographie finanziert.

Aus unserer Sicht ist bei der Bewertung dieses Falles im Kontext des NSU äußerste Vorsicht geboten: Richtig ist, dass es im Umfeld des NSU Personen gab wie den V-Mann Tino Brandt, der wegen organisiertem Kindesmissbrauch verurteilt wurde, und dass es wohl auch neonazistische Drohbriefe an die Mutter von Peggy K. gab, weil diese zum Islam übergetreten war. Und richtig und wichtig ist nicht zuletzt auch, dass die Ermittlungen im Mordfall Peggy K. von demselben Ermittler geleitet wurden, der auch die Ermittlungen zur NSU-Mordserie in rassistischer Manier gegen deren Opfer ausgerichtet hatte.

Daher erscheint eine Verbindung von Böhnhardt – und damit Zschäpe – zum Mord an Peggy K. durchaus denkbar. Genauso denkbar erscheint aber auch z.B. eine Verunreinigung der DNA-Proben – wenn Polizei und Rechtsmedizin behaupten, die sei ausgeschlossen, muss ihnen das nicht ungesehen geglaubt werden. Auch im Fall des „Phantoms von Heilbronn“ etwa (der anhand von DNA-Proben „festgestellten“ vermeintlichen Tatverdächtigen des NSU-Mordes und Mordversuchs an zwei PolizistInnen in Heilbronn, die sich letztlich als Mitarbeiterin des Werks herausstellte, in dem die Wattestäbchen für DNA-Proben verpackt worden waren) wurde lange behauptet, eine Verunreinigung sei selbstverständlich ausgeschlossen.

Deswegen gilt hinsichtlich des Falles Peggy K. – wie zu so vielen Fragen im NSU -Kontext –, dass weitere Aufklärung dringend geboten ist. Was jedoch sicher nicht weiterhilft, ist eine Vorfestlegung auf klassisches Sensationsmedien-Futter wie die Behauptung, der NSU habe sich mit Kinderpornographie finanziert. Dies vor allem, weil eine solche Behandlung des Sachverhalts eine massive Entpolitisierung des Themas NSU nach sich ziehen könnte, indem Nazi-Mörder, die rassistisch motivierte Hassverbrechen begehen, zu durchgeknallten Perversen erklärt werden, deren Beweggründe man sowieso nicht so recht beschreiben kann. Dass der NSU mit seinen Morden genau das durchführte, was in den 1990ern und 2000ern in Strategiepapieren in der Nazi-Szene ausformuliert wurde, dass der institutionalisierte Rassismus der Polizei zu Ermittlungen gegen die Opfer dieser Taten führte, all das könnte, so steht zu befürchten, unter einer BILD-mäßigen Berichterstattung über durchgeknallte Sex-Gangster und unfähige Polizisten vergraben werden. Es ist also Vorsicht geboten, will man nicht den ohnehin aufklärungsunwilligen Behörden und denjenigen, die das Bestehen von organisierten bewaffneten Nazistrukturen und militärischen Konzepten der Naziszene vehement bestreiten, Argumente liefern, die politische Ausrichtung des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ weiter in Frage zu stellen.

Wohlleben-Verteidiger Klemke derweil zeigte sich in Reaktion auf den Antrag wieder einmal als klassischer Rechts-Anwalt: er unterstellte Nebenklägervertreter Dr. Daimagüler – fälschlich –, im Antrag den Nachnamen von Peggy K. falsch wiedergegeben zu haben, und schob nach: „aber es ist ja nur ein deutsches Opfer, […] das interessiert ja niemanden.“ Diese offensichtlich auf Applaus von Wohllebens Kameraden außerhalb des Gerichtssaals abzielende Äußerung ist so dümmlich, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll: Bei dem neu-rechten Versatzstück des angeblichen „anti-deutschen Rassismus“, das Klemke hier bemüht? Bei der Tatsache, dass Daimagüler den Nachnamen der Peggy K. natürlich richtig angegeben hatte und Klemke den vermeintlichen Fehler herbeihalluziniert hatte? Bei der Tatsache, dass demgegenüber die Namen der türkeistämmigen Opfer der NSU-Mordserie auch im Gerichtssaal immer wieder grotesk falsch wiedergegeben wurden? Dabei, dass für Klemke anscheinend auch diejenigen NSU-Opfer mit türkischen Wurzeln „Nichtdeutsche“ darstellen, die ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht hatten und einen deutschen Pass hatten? Klemke machte jedenfalls wieder einmal deutlich, dass der Schwerpunkt seiner Verteidigungstätigkeit sich immer mehr auf die Verbreitung rechten Gedankenguts im Gerichtssaal verlagert.