06.12.2017

Weitere Plädoyers der Nebenklage: u.a. zu Andreas Temme

Heute plädierten zunächst die Vertreter_innen der Familie Yozgat sowie die Eltern von Halit Yozgat persönlich.

Rechtsanwalt Alexander Kienzle befasste sich in seinem Plädoyer ausführlich mit der Rolle des hessischen Verfassungsschützers Andreas Temme, der während des Mordes an Halit Yozgat im Internetcafé saß und behauptet, den Mord weder wahrgenommen noch später die Leiche von Halit Yozgat gesehen zu haben. Er verwies u.a. darauf, dass Temme einige Wochen vor der Tat mit Ermittlungen zu der damals als „Dönermorde“ bekannten Serie beauftragt worden war. Weiter stellte Kienzle ausführlich die umfassenden Blockadebemühungen des Verfassungsschutzes gegenüber den Mordermittlern dar, die seitens des Landesamtes mit dem Argument des Quellenschutzes begründet wurden, auf der anderen Seite stünde ja nur ein Tötungsdelikt.

Kienzle setzte diese Handlungen in Zusammenhang mit dem Handeln des Verfassungsschutzes im Jahr 1998, als eine Möglichkeit, über den Waffenbeschaffer und V-Mann Szczepanski der drei NSU-Kernmitglieder habhaft zu werden, bewusst ausgelassen wurde, ebenfalls mit dem Argument „Quellenschutz“ begründet.

Alexander Kienzle machte deutlich, dass insoweit auch der Bundesanwaltschaft und dem Oberlandesgericht Vorwürfe zu machen sind: die Bundesanwaltschaft hatte sich vor offensichtlich lügende oder Erinnerungslücken vortäuschende Zeugen gestellt, hatte mit ihrer Behauptung, es gebe keine Anzeichen für eine Verstrickung staatlicher Stellen, versucht, die Öffentlichkeit zu täuschen. Die Bundesanwaltschaft hatte auch an der „Fortschreibung der Legendierung“ der Verfassungsschutzbehörden mitgewirkt, so nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 an einem Treffen mit Verfassungsschutzbehörden teilgenommen, in dem es um die Rolle Szczepanskis ging. Alexander Kienzle schilderte das große Vertrauen, das die Familie Yozgat in das Gericht gehabt hatte, und warf dem Gericht vor, dieses Vertrauen enttäuscht zu haben, u.a. indem es seine Aufklärungspflicht viel zu eng verstand und so vielen Fragen gar nicht nachging. Besonders warf er dem Gericht das „Glaubwürdigkeitsattest“ für Temme vor, also den Beschluss, indem der Senat ausgeführt hatte, warum er keine Gründe sehe, an der Aussage Temmes zu zweifeln – sehr zur Überraschung aller Beteiligten, die Temmes unglaubliches Schauspiel im Gerichtssaal verfolgt hatten. Der Senat sei damit der Alternativbedeutung seiner Bezeichnung als Staats-Schutz-Senat gerecht geworden.

Es folgten die bewegenden Plädoyers von Ayşe und İsmail Yozgat, die erneut überdeutlich machten, wie stark die Angehörigen der Mordopfer noch heute leiden, und zwar sowohl wegen der Ermordung ihrer Angehörigen als auch wegen der verweigerten Aufklärung:

Frau Yozgat wandte sich direkt an Beate Zschäpe und fragte:

„Können Sie einschlafen, wenn Sie Ihren Kopf auf das Kissen legen? Ich kann seit 11 Jahren nicht einschlafen, denn ich vermisse meinen Sohn so sehr. Was haben Sie dadurch erreicht? Sie haben sich versteckt und sich hingelegt. Gab es überhaupt Gott bei Ihnen?“ 

Und an das Gericht gewandt stellte sie fest:

„Sie waren meine letzte Hoffnung und mein Vertrauen, aber ich sehe, dass bei Ihnen auch kein Ergebnis herauskommt. Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig produziert, es gibt kein Ergebnis.“ 

Auch Herr Yozgat übte deutliche Kritik am Senat: eine Ortsbesichtigung des Internetcafés in Kassel werde zeigen, dass der Agent Temme lüge. Solange das Gericht eine solche Besichtigung nicht mache, werde er das Urteil nicht anerkennen. Neben Temme habe sich auch Volker Bouffier, erst Innenminister, dann Ministerpräsident Hessens, schuldig gemacht: „Jetzt sage ich, der Temme hat meinen Sohn ermordet und Bouffier hat seine Straftaten verdeckt.“ Auch die Polizeibehörden sparte İsmail Yozgat in seiner Kritik nicht aus: „Bereits zum Zeitpunkt seiner Ermordung sagte ich, dass Ausländerfeinde meinen Sohn ermordet haben, aber niemand hat mir geglaubt.“

Es folgten die Plädoyers der Rechtsanwälte Turan Ünlüçay, Kiriakos Sfatkidis, Isaak Sidiropoulos und Önder Boğazkaya. Sie vertreten die Eltern und Geschwister von Mehmet Kubaşik, die selbst nicht erscheinen konnten, sich aber in kurzen, von ihren Anwälten verlesenen Statements an das Gericht wandten. Alle vier Anwälte sprachen nur je etwa 20 Minuten, dennoch waren auch ihre Plädoyers eindrückliche Zeugnisse des von den NSU-Mördern angerichteten Leides, aber auch der Kritik an Polizei, Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft.

Auch Ünlüçay, Sfatkidis, Sidiropoulos und Boğazkaya führten aus, warum sie die Bundesanwaltschafts-These von der isolierten Dreierzelle für überholt halten, auch sie sprachen die Rolle des Verfassungsschutzes an und auch sie kritisierten die rassistischen Ermittlungsmethoden der Polizeibehörden, von denen auch ihre, mit einer Ausnahme in der Türkei lebenden Mandant_innen nicht verschont blieben. Zu letzterem führte etwa Turan Ünlüçay aus:

„Der NSU verfolgte mit seinen Taten den Zweck, Menschen mit Migrationshintergrund in Angst und Schrecken zu versetzen, diese zu verunsichern und zur Auswanderung zu bewegen, damit ihre rassistischen Vorstellungen von einer reinrassigen Gesellschaft verwirklicht werden können. Eine Verunsicherung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund wurde mit diesen Morden nicht erreicht. Für Verunsicherung sorgte jedoch, wie auch vom Kollegen Ilius zutreffend festgestellt wurde, der Umgang der staatlichen Ermittlungsbehörden mit den Opfern, also denjenigen Behörden, denen man sein Leben anvertraut, von denen man erwartet, dass sie objektiv ermitteln und den Opfern mit Respekt begegnen.“ 

Und zu der Operativen Fallanalyse des LKA Baden-Württemberg, wonach angesichts des „in unserem Kulturraum“ bestehenden Tötungstabus folge, „dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verorten ist“, kommentierte er:

„Nun, wo die Täter zu verorten waren, wissen wir mittlerweile besser. Die Frage ist nur, wo solch eine pauschal andere Kulturen abwertende Analyse zu verorten ist. Ich bin der Ansicht, dass diese Analyse in einer rechtsradikalen Zeitschrift sehr gut aufgehoben wäre. Gerade solche Analysen lösen bei Menschen mit Migrationshintergrund Verunsicherung und Misstrauen gegenüber staatlichen Behörden aus.”

Daneben wandten sich die vier Stuttgarter Anwälte auch den Angeklagten selbst zu, insbesondere der Angeklagten Zschäpe. Zschäpes Aussageverhalten im Gericht, in dem sie sich als Opfer der beiden Uwes zu präsentieren versuchte, kommentierte Kiriakos Sfatkidis wie folgt:

Zschäpe hat „als Mittel nicht etwa ein von Reue geprägtes Geständnis gewählt. Vielmehr hat sie eine ihr bekannte und in ihren Augen bewährte Methode gewählt. Nämlich der Griff in die „Lisa Dienelt-Trickkiste“. Täuschen, tarnen, verharmlosen, ablenken, eine Fassade erschaffen und aufrechterhalten. Diese Methode hat die Angeklagte Zschäpe bereits während der Zeit im Untergrund gewählt.“

Und die „Entschuldigung“ Zschäpes gegenüber den Opfern kommentierte er wie folgt:

„Beate Zschäpe soll Angst davor gehabt haben, dass sich beide umbringen und dass sie mit ihnen ihre Familie, allen voran Uwe Böhnhardt, verlieren würde. Wie ernst kann eine solche Entschuldigung sein? Wie soll die ‚Entschuldigung‘ aufgefasst werden? ‚Oh, Entschuldigung, aber ich war verliebt. Sollen doch lieber andere ermordet werden, bevor sich die beiden umbringen.‘“

Und schließlich zu Zschäpes Ausführungen zu ihrer angeblichen Reaktion, nachdem die beiden Männer ihr von den Morden erzählt hätten – das Weihnachtsfest sei nicht gefeiert worden, man habe keine Geschenke ausgetauscht und auch ihr Geburtstag am 2. Januar sei nicht gefeiert worden:

„Das waren also die Probleme von Beate Zschäpe. Es gab weder ein Weihnachtsfest noch ein Geburtstagsfest, noch hat es Geschenke gegeben. Wie sollen Geschenke ausgetauscht werden, wenn die Christstollendose dafür benutzt wurde, um einen Bombenanschlag zu verüben? Was glauben Sie, Frau Zschäpe, wie viele Geburtstagsfeste die Angehörigen der Mordopfer gefeiert haben?“

Auch Isaak Sidiropoulos zog ein sehr negatives Fazit zum Aufklärungserfolg des Prozesses:

„Die berechtigten Hoffnungen meiner Mandantin und ihrer Familie, die durch das Versprechen der Bundeskanzlerin und das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat bestärkt wurden, sind mit zunehmender Dauer des Prozesses zunichtegemacht worden.“

Önder Boğazkaya verwies erneut auf die rassistischen Ermittlungsmethoden der Polizei und überbrachte von seiner Mandantin, der jüngeren Schwester Mehmet Kubaşik, folgende Botschaft an die deutsche Mehrheitsgesellschaft:

„Während wir Euch immer vertraut und geachtet haben, habt Ihr uns wohl nie als gleichwertig betrachtet, ja sogar die Taten als ‚Dönermorde‘ bezeichnet.“

Er selbst wandte den Blick auch in die Zukunft:

„Das Traurige ist, dass die in der Hauptverhandlung vernommenen Ermittlungsleiter und Polizisten, auch rückblickend, fast ausnahmslos keine Fehler eingestanden oder sich gar bei den Opferfamilien entschuldigt haben. Auf diese selbstgerechte Art kann weder bei den Opferangehörigen noch insgesamt in der Bevölkerung das verlorene Vertrauen zurückgewonnen werden. Es hätte zumindest den Schmerz der Angehörigen gemildert, wenn mit klaren Worten, ohne auszuweichen gesagt worden wäre: ‚Wir haben ein Problem mit intentionellen Rassismus, wir entschuldigen uns! Wir werden alles tun, damit sich das in Zukunft nicht wiederholt!‘“

Nächste Woche folgen weitere Plädoyers aus der Nebenklage, u.a. von der Nebenklage Taşköprü aus Hamburg, von den Vertretern der Mutter von Michèle Kiesewetter sowie ihres schwerverletzten Kollegen sowie von Nebenklägervertreter_innen aus der Keupstraße. So wird auch Alexander Hoffmann sein gestern begonnenes Plädoyer zur Ideologie des NSU und seiner Unterstützernetzwerke beenden.