09.01.2018

Beginn des Plädoyers zum Mord an Enver Şimşek

Zu Beginn des heutigen Verhandlungstages plädierte zunächst Rechtsanwalt Goldbach, der Betroffene des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße vertritt. Er sprach zunächst kurz von seinen Mandant_innen, von ihren enttäuschten Hoffnungen, im Prozess Aufklärung zu erlangen. Er schilderte aber ach, dass seine Mandant_innen sich vom NSU nicht haben aus Deutschland vertreiben lassen, inzwischen zufriedene und ganz normale Leben führen.

Goldbach wandte sich dann den Angeklagten zu und stellte dar, warum er davon ausgeht, dass auch die Angeklagten Wohlleben und Eminger Beihilfe zum Anschlag in der Keupstraße geleistet haben – beweisen wird sich das indes nicht lassen nach den oberflächlichen Ermittlungen auch nach 2011.

Zu Zschäpe vertrat Goldbach eine etwas andere Position als viele im Prozess: er sieht sie als eine Person, die zwar klare politische Positionen hat, aber ansonsten eher schwach ist und sich ihrem jeweiligen Umfeld anpasst. In diesem Zusammenhang kritisierte er die neuen Verteidiger Zschäpes, Grasel und Borchert, scharf für ihre Strategie, Zschäpe total unglaubhafte Angaben machen zu lassen.

Es folgte das sehr berührende und beeindruckende Plädoyer von Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die die Witwe des ersten Mordopfers des NSU, Enver Şimşek, vertritt. Ihre Mandantin Adile Şimşek und deren Sohn Abdulkerim waren heute im Gerichtssaal. Ebenfalls anwesend waren Yvonne Boulgarides, Witwe des in München ermordeten Theodoros Boulgarides, und ihre Töchter. Ihr Anwalt Yavuz Narin wird ebenfalls diese Woche plädieren.

Im ersten Teil des Plädoyers heute schilderte Seda Basay zunächst das Leben von Enver Şimşek und seiner Familie vor der Tat – das Kennenlernen der Eltern im Heimatdorf in der Türkei, den Umzug nach Deutschland, wo Şimşek zunächst in einer Fabrik arbeitete und sich dann mit dem Blumenhandel selbständig machte, die viele Arbeit, den Entschluss, in die Türkei zurückzukehren:

„So fasste Enver Şimşek im Jahre 2000 die Absicht, den Blumenhandel in Deutschland langsam aufzugeben und mit seiner Familie in die Türkei zurückzukehren.  Er wollte in seine Heimat zurück.  Ein einfaches Haus hatte er für sich und seine Familie in dem Dorf gebaut, wo er geboren und aufgewachsen war, mit Blick auf die Berge in einer wunderschönen Landschaft, an einem Ort, wo jeder jeden kennt.

Sie hätten ihn nicht umbringen müssen, um „den Erhalt der Deutschen Nation zu sichern“. Er wäre ohnehin zurückgekehrt. Auch sein Leichnam ist nicht hiergeblieben, sondern liegt in seinem Dorf unweit des Hauses, dass er gebaut hatte und wo er leben wollte. […]

Enver Şimşek wäre heute 56 Jahre alt. Er hat viele schöne Momente in seinem Leben verpasst. Das Haus in Salur steht heute leer. Wer soll da wohnen? Es sind einfach zu viele Erinnerungen. Seine Sachen stehen heute noch im Schrank im Schlafzimmer des Hauses, als ob er jeden Augenblick zurückkehrt. Der Blumenhandel wurde nach seiner Ermordung aufgegeben. […]

Die Entscheidung, den Vater und Ehemann in der Türkei zu beerdigen, war richtig. Sie können in Deutschland noch nicht mal eine Gedenktafel an dem Ort anbringen, wo er zu Tode gekommen ist, ohne dass diese immer wieder mit Hakenkreuzen beschmiert wird, so wie es bei der Gedenktafel für Enver Şimşek in Nürnberg zuletzt immer wieder der Fall war.“

Rechtsanwältin Basay wandte sich danach den Ermittlungen der Polizei zu. Sie ging dabei sehr kleinteilig vor, zitierte viele Passagen aus Ermittlungsvermerken und Vernehmungen, und stellte so noch einmal eindringlich dar, mit welchen massiven und zum Teil absurden Methoden den Thesen von Motiven im Familienkreis oder einer Verbindung zur organisierten Kriminalität nachgegangen wurde, obwohl sich nicht der geringste Anhaltspunkt dafür fand – angefangen damit, dass die Polizei Adile Şimşek nicht zu ihrem sterbenden Mann ins Krankenhaus lassen wollte, bis dahin, dass die Polizei Zeug_innen ein Foto einer Frau, die mit dem Fall nichts zu tun hatte, vorlegte mit der Behauptung, das sei die Geliebte von Enver Şimşek. So wurde noch einmal eindrücklich klar, welches zusätzliche Leid diese Ermittlungen für die Familie bedeuteten.

Gleichzeitig stellte Seda Basay dar, dass eindeutigen Hinweisen auf „deutsche“ Täter – und zwar von Augenzeugen, die sehr wahrscheinlich die Tat selbst oder die Momente direkt davor und danach wahrgenommen haben – praktisch gar nicht nachgegangen wurde. In ihrer Zusammenfassung stellte sie noch einmal anschaulich dar, was das von der Nebenklage immer wieder thematisierte Problem des institutionellen Rassismus bedeutet:

„Alle Mordkommissionen, die die Morde der Ceska-Serie ermittelten, lagen in sehr unterschiedlichen Bundesländern mit unterschiedlichen historischen Bedingungen und juristischen Traditionen. Und trotzdem verhielten sie sich in einem wesentlichen Punkt identisch: Sie verfolgten jeden noch so entfernten oder abwegigen Hinweis auf angenommene OK-Verbindungen der Opfer oder eine Verbindung der Opfer untereinander mit großem zeitlichen und finanziellen Aufwand. Hinweise von Zeugen auf als „deutsch aussehend“ beschriebene mögliche Tatverdächtige und/oder auf Fahrradfahrer wurden hingegen so gut wie nicht verfolgt. Trotz der Hinweise der Angehörigen wurde ein rassistisches Motiv in keinem der Mordfälle auch nur ernsthaft erwogen und in diese Richtung ermittelt. 

Auch hier im Verfahren haben wir zur Verteidigung der Polizeiarbeit immer wieder gehört, es sei nicht nach Neo-Nazis als Tätern gesucht worden, weil es keinen Hinweis auf ein rechtes Motiv gab. Aber genauso gab es keinen Hinweis darauf, dass Enver Şimşek seiner Frau untreu geworden war und diese zwei Auftragskiller zu ihm geschickt hatte und trotzdem wurde dieser Ermittlungsansatz mit viel Energie und schrecklichen Folgen für die Familie von der Polizei verfolgt. 

Der Umstand, dass sich der Polizeiapparat bei allen Opfern vorstellen konnte, dass diese Kontakte zur organisierten Kriminalität haben oder dass ihre Frauen sie aus Eifersucht töten ließen, aber ein rassistisches Motiv nicht für möglich hielten bzw. dieses nicht verfolgten, hat mit der Herkunft der Opfer zu tun. 

Vorurteile beherrschten die Polizeiapparate so, dass sie nur die Ermittlungsansätze in Richtung organisierte Kriminalität verfolgten und ein rassistisches Motiv für sie nicht denkbar war. 

Noch einmal: dies sagt nichts über die Motive der einzelnen ermittelnden Beamten aus. Vielmehr zeigt sich der Rassismus in Abläufen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die durch unbewusste Vorurteile, Nichtwissen, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotype zu Diskriminierung führen und Menschen benachteiligen. In diesem Fall die Hinterbliebenen von Enver Şimşek und der übrigen Opfer der Ceska-Serie.“

Seda Basay wird ihr Plädoyer leider erst morgen abschließen können – die Verhandlung heute wurde gegen Mittag beendet, da der Angeklagte Wohlleben über Rückenschmerzen klagte. Wohllebens Verteidigerin Schneiders wurde heute zeitweise von ihrem ehemaligen Kanzleikollegen Steffen Hammer vertreten. Seine Stimme war im Münchener Gerichtssaal bereits zu hören gewesen, und zwar zu Beginn des Prozesses, als die ersten Versionen des NSU-Bekennervideos abgespielt wurden – unterlegt mit passender Musik der Nazi-Band Noie Werte, deren Frontmann Hammer war.