19.12.2017

Plädoyer von Rechtsanwalt Reinecke: u.a. zur Kommunikationsstrategie des NSU

Rechtsanwalt Eberhard Reinecke setzte heute sein Plädoyer fort. Zunächst erwiderte er kurz auf die Ausführungen des Rechtsanwalts Kaplan von letzter Woche und stellte noch einmal ausführlich dar, warum die Fragen von institutionellem Rassismus usw. sehr wohl in das Münchener Verfahren gehörten und warum diejenigen, die gegenüber den Wünschen ihrer Mandant_innen immer wieder ihre Stellung als „unabhängiges Organ der Rechtspflege“ betonen, schnell zu „untätigen Organen der Rechtspflege“ werden.

In einem Halbsatz erwähnte er auch ein Schreiben der Schwester von Süleyman Taşköprü ans Gericht, dass sie nach dem bizarren und reaktionären Plädoyer von letzter Woche nicht mehr von Rechtsanwältin Wierig vertreten werden möchte, da dieses nicht in ihrem Interesse war und sie sich von Wierig getäuscht fühlt. Wierig war heute – entgegen dem ausdrücklichen Wunsch ihrer Mandantin – in München anwesend. Die Thematisierung dieses Schreibens durch Reinecke führte wieder einmal zu empörten Interventionen der „Altverteidiger_innen“ Zschäpes – wieder einmal auch entgegen dem mutmaßlichen Interesse ihrer Mandantin, die von Wierig als „Mastermind“ des NSU bezeichnet worden war.

Eberhard Reinecke wandte sich dann der Kommunikationsstrategie des NSU zu und übte Kritik an der These der Bundesanwaltschaft, der NSU habe sich ja nicht zu seinen Taten bekannt, es sei daher verständlich, dass die Ermittlungsbehörden nicht in die richtige Richtung ermittelt hätten. Reinecke verwies auf den Zusammenhang zwischen dem sog. NSU-Brief, den die Organisation Anfang 2002 an verschiedene Nazi-Organisationen verschickt hatte, und dem aus demselben Zeitraum stammenden 2. Bekennervideo des NSU, in dem die bis dahin begangenen Taten aufbereitet worden waren. Seine These: der NSU-Brief war zur Veröffentlichung gedacht, sollte eine Diskussion auslösen, in die hinein das Video veröffentlicht werden sollte. Dafür spricht auch der Entwurf eines NSU-Logos, das große Ähnlichkeiten mit dem (um 180 Grad gedrehten) SA-Symbol aufweist. Diese Diskussion hat dann aber nicht stattgefunden, dieser Fehlschlag erklärt auch die fast 2 ½ Jahre Unterbrechung zwischen dem Mord an Habil Kiliç im August 2001 und dem an Mehmet Turgut im Februar 2004.

Beim sog. Paulchen Panther-Video sei auffällig, dass es im November 2011 schon „eingetütet“ war. Zudem sei „das Ende des Videos mit ‚Heute ist nicht aller Tage, wir kommen wieder, keine Frage‘ […] sicherlich das Gegenteil von ‚Wenn ihr das hier seht, sind wir schon tot‘.“ Es spreche vieles dafür, dass es im Zusammenhang mit weiteren geplanten Taten veröffentlicht werden sollte – möglicherweise auf das jüdische Krankenhaus in Berlin, von dem in der Wohnung des NSU eine aktuelle Karte gefunden wurde:

„Es kann also durchaus sein, dass durch den Selbstmord der beiden Uwes am 4.11.2011 ein geplanter größerer Terroranschlag verhindert wurde und dass die Angeklagte Zschäpe die in diesem Zusammenhang ohnehin geplante Verschickung des Bekennervideos als Teil eines größeren Planes durchgeführt hat.“

Beweisen lassen wird sich all dies nicht, dafür hätten die Ermittlungsbehörden wenigstens nach 2011 vernünftig ermitteln müssen. Reineckes Plädoyer zeigte aber erneut auf, wie viele Fragen noch offen sind, selbst im Hinblick auf die NSU-Kernmitglieder. Da viele dieser Fragen wohl nur von der Angeklagten Zschäpe beantwortet werden können, schloss er mit dem Appell an das Gericht,

„im Urteil festzuhalten, dass […] eine günstige Sozialprognose für eine irgendwann in ferner Zukunft anstehende Entlassung nicht gestellt werden kann, wenn Frau Zschäpe nicht den erforderlichen Abstand zu ihren Taten gewonnen hat und dass dies letztlich nur daran überprüfbar ist, wie weit sie ihr Wissen über den NSU und seine Taten auch tatsächlich preisgibt.“

Das Plädoyer der Kollegen Schön und Reinecke ist auf deren blog veröffentlicht, wir empfehlen die Lektüre des gesamten Textes, beginnend mit dem Eintrag vom 16.12.2017 zum Plädoyer von Reinhard Schön.

Zu weiteren Plädoyers kam es heute nicht: die Verteidigung Wohlleben gab an, man wolle eine Verfügung des Vorsitzenden beanstanden und brauche dafür 3 Stunden, der Angeklagte Eminger klagte über Migräne und mehrere Verteidiger_innen über Erkältungen. Der Sitzungstag endete daher kurz nach 13 Uhr.